Herforder AutorInnengruppe – Rapunzelzeiten

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Eine Rezension von Hellmuth Opitz

aus: Tentakel 01/2023, Literaturzeitschrift

Anthologien sind ja die COLORADO-Tüten unter den literarischen Veröffentlichungen: die Mischung macht’s. Dass hier statt Weingummi und Lakritz eher Prosa und Lyrik für das eigene Wohl sorgen, tut dem Genuss keinen Abbruch, im Gegenteil: Man stößt mit dem Umblättern jeder Seite auf poetische Überraschungen, andere Stile, unterschiedliche Gattungen, kurz: heterogene Elementarteilchen der Literatur. Schon der Titel „Rapunzelzeiten“ erlaubt mehrere Deutungen: Er kann eine Anspielung auf die Corona-Pandemie sein, in der die Literatur gezwungen war, sich mangels Lesungen in den Elfenbeinturm des eigenen Schreibzimmers zurückzuziehen und neue Texte allenfalls wie Rapunzelzöpfe in die Öffentlichkeit zu bringen. Es kann aber auch schlicht heißen, dass es höchste Zeit ist, alte Zöpfe abzuschneiden.

Was die Mitglieder der Herforder AutorInnengruppe bei aller Unterschiedlichkeit eint, ist laut eigenem Statement „ihr unerschütterlicher Glaube an Menschlichkeit und Verantwortung für unsere Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.“ Was erwartet den geneigten Leser aber konkret unter dem Dach dieses eher allgemein gehaltenen Mission- Statements?

Da ist zum Beispiel die Geschichte „Nachrichten aus dem Gefängnis“ von Norbert Sahrhage, ein Ausschnitt aus seinem historischen Krimi „Werwolfmorde“ , der auf packende Weise die Situation kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs schildert, wo der politische Unterdrückungsapparat der Nazis zur vollen Entfaltung gekommen war. Petra Czernitzki beleuchtet in ihrem allegorischen Text „Wörtermeer“ die Gezeiten der Sprache, ihre Untiefen und Unterströmungen. Artur Rosenstern greift in seinem Gedicht „der rücklichtlose Herbst“ einen Unfall auf nassem Laub auf – und dass man dabei unwillkürlich „der rücksichtslose Herbst“ mitliest, ist durchaus beabsichtigt. Michael Helm deckt in seinen eindringlichen Prosastücken mit einer feinsinnigen, behutsam sich vortastenden Sprache alte Verletzungen und verdrängte Ereignisse auf. Einen plakativeren Pinselstrich bevorzugt die Prosa von Nicolas Bröggelwirth, doch in seiner Erzählung „Das Lächeln“ gelingt ihm das sensible Porträt eines Mannes, dem vom Schicksal und brutalen Mitmenschen übel mitgespielt wurde. Christine Zeides, die jüngste unter den glorreichen Sieben der Gruppe, zeichnet in ihren Gedichten die Topographie Berlins nach, kritische Seitenblicke auf Auswüchse des Kapitalismus inklusive. Anarcho-Poet Ralf Burnicki schließlich, spiritus rector der Gruppe, geht in seinen politischen Poemen philosophisch und damit fundamentaler an die Segnungen unseres Wirtschaftssystems heran, da bekommt der Taylorismus mit subtiler Ironie sein Fett weg.

Übrigens ist jedes Mitglied der Gruppe mit mehreren Texten vertreten – und das in bunter Reihenfolge, was den Lesereiz zusätzlich erhöht. Die 10 Euro für die Anthologie sind gut investiertes Geld.